Angst

ganges 

An den Ufern des Ganges

 Am Ufer des Ganges saßen sie, der Schüler und der Meister, blickten dem Strome, den Wellen, dem Fließen zu. Drüben standen Kühe im Wasser, bei der seichten Biegung wuschen Frauen ihre Wäsche und andere trugen anmutig schreitend Wasserkrüge auf ihren Häuptern – und weiter unten, schwach zu sehen, übergaben die Dorfbewohner den Körper eines Verstorbenen dem Wasser, zum zweiten Mal schon in diesem Monat, erst war die Frau gegangen, dann der Mann. Berührt und unberührt zugleich floss der Strom dahin, wie immer schon, noch ehe Menschen waren, ihn zu sehn.  

Lange beobachteten die Beiden das Treiben am Wasser, das Kommen und Gehen, da sagte der Schüler:  

„Was macht einsam?“ „Ich, das Einzelwesen, das macht einsam. Ich der Beste, ich der Klügste, ich der Schönste, ich der Geringste. Wenn einer dies sagt, wie sollte er da nicht einsam sein.“  

„Wie sollen wir leben?“ „Kein Extrem, nicht zu viel und nicht zu wenig, maßvoll sein in allen Dingen und keine Abhängigkeiten. Alltäglich sein im Alltag. Nichts ist schwieriger als dies und doch ist es der Pfad der Mitte, der goldene Weg zur Erleuchtung.“ 

„Was ist das größte Unglück?“ „Den rechten Weg zu wissen und nicht zu gehen.“  

„Wenn mich jemand fragt, ob er jeden Tag meditieren soll, was sage ich ihm?“ „Sag: jeden Tag – denn jeden Tag, da wächst der Baum, das Gras, die Blume, der Mensch – die großen Dinge geschehen im Alltag.“  

„Wie geht man mit Besitz um?“ „Besitz ist etwas, das du hast, das aber niemals dich haben darf. Wenn einmal die Menschen dieser Welt sagen: ‚Leer ist das Mir und Mein’, dann werden sie alles besitzen – denn, wer sich leer macht, dem gehört bald das Universum.“  

„Heißt verzeihen auch vergessen?“ „Du hast ein Gehirn, damit du nicht vergisst. Doch wer verzeiht, den kümmert bald nicht mehr was ihm erinnert. Dies geschieht nicht gleich – es wächst und das, was wächst erreicht seine Erfüllung.“  

„Wenn einer nicht verzeihen kann, was dann?“ „Vielleicht würden es die Menschen besser verstehen, wenn man ihnen statt dem Wort Verzeihen das Wort Loslösen sagt.“  

„Was ist das Größte?“ „Das im Kleinsten Platz findet.“ „Was findet im Kleinsten Platz?“ „Die Liebe. Was dir verborgen von dieser Welt, hat deine Liebe noch nicht umfangen.“ „Was ist bedeutend?“ „Das Leben.“ „Was ist bedeutender?“ „Die Erkenntnis.“„Was ist das Bedeutendste?“ „Leere, die zur Fülle wird.“  

„Was ist stark?“ „In seinem Wissen ohne Zweifel sein, das ist stark.“  

„Was ist Angst?“ „Angst beginnt dort, wo Gott in dir endet. Alle Ängste lösen sich durch Meditation. Meditation und Alltag bringt dich Gott näher und näher – es gibt keinen anderen Weg.“ 

„Was ist Ignoranz?“ „Da war einmal ein Mensch, der sagte empört: ‚Mögen alle Überheblichen blind werden und alle Ignoranten taub, und alle Dogmatiker mögen sich den Arm brechen, und alle Scheinheiligen den Fuß verstauchen‘ – und als sich sein Wunsch erfüllte, war er blind, hörte nichts, hatte einen gebrochenen Arm und einen verstauchten Fuß.“  

„Manchmal ist es schwer für mich, das was Du sagst mit dem Verstand zu erfassen.“ „Wer des Meeres Tiefe erfassen will muss darin versinken. Verstand und Intelligenz sind nicht dasselbe. Wenn der Verstand des Menschen Tun bestimmt, was ist er wert? Und vor und neben und hinter dem Verstand, da steht die Wahrheit unberührt. Wer den Verstand verlässt, begibt sich auf den Weg des Kindes.“  

„Was ist Fanatismus?“ „Begeisterung ohne Weisheit. Was ohne Weisheit ist, ist jenseits der Natur der wahren Dinge. Wer jenseits der Natur der wahren Dinge ist, verfällt in Dummheit.“  

„Was ist Hochmut?“ „Sich wertvoller zu schätzen als alles andere. Darum bleibt den Hochmütigen vieles verborgen, am meisten er sich selbst. Wer aber demütig ist, dem verschenken sich die Kräfte und alle Elemente.“  

„Wer von uns ist am weitesten?“ „Alles was außen ist, ist auch innen, auch Gott. Jener, der seinem Selbst am nächsten ist, der ist am weitesten.“  

„Was ist Zeit?“ „Die Zeit, sie ist am anderen Ufer. Da wo ich die Hand ins Wasser tauche, da ist kein Anfang und kein Ende – und nirgendwo der Tod.“  

„Woran erkenne ich, wie nahe ich der Wahrheit bin?“ „Alle Antworten wirst du in der Liebe finden, denn Liebe und Wahrheit sind eins.“  

„So viel hab ich von dir gelernt, und mehr noch gibt es zu erfahren. Würdest du mir erlauben, dir zu folgen, wie dein Schatten?“ „Wer mich liebt, ist immer bei mir“, sagte Sramana. „Du bist jetzt dein eigener Meister; was du wissen musstest, weißt du nun. Sei nicht mein Schatten, geliebter Freund, sei dein eigenes Licht.“  

Noch einmal sahen sie einander in die Augen, der Ganges spiegelte sich darin, dann verneigten sie sich voreinander und gingen gelassen ihres Weges. 

Autor: Werner V. Steindl    

  

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